Süddeutsche Zeitung vom 19.April 2006
Am Abgrund von Silvia Stammen
Im ersten Moment hat es den Anschein, als hinge ein tonnenschweres zylindrisches Gewicht über der Bühne der Black Box, in der Lage, jeden zu zerquetschen. …
…Und so rollt sich der Tänzer Cesc Gelabert auch erst einmal vorsichtig an den Seiten der leicht abgesenkten, quadratischen Spielfläche entlang. Er hangelt mit den Händen hinter dem Kopf an der niedrigen Schwelle, als läge er nicht flach auf dem Boden, sondern balanciere über einem Abgrund oder am Rand eines grundlos tiefen Wassers, wie in Heiner Müllers todesvisionärem „Traumtext“ , mit dem sich die Münchner Komponistin nun zum bereits zum zweitenmal befasst. Dabei ist Müllers letztes, schmerzhaft verdichtetes Prosawerk, in dem ein Ich mit seiner zweijährigen Tochter auf dem Rücken am inneren Rand eines Betonbeckens entlang wandert und das Sterben eines dicken Mannes beobachtet, ein Text, der sicherlich keine Bebilderung, umso mehr jedoch die Konfrontation mit anderen Medien verträgt. Eine Herausforderung, der sich Helga Pogatschar durchaus bewusst ist.
Während sie 2004 beim Dance-Festival in der Muffathalle noch mit Madrigal-Chor und großformatigen Videoprojektionen arbeitete, hat sie nun zusammen mit dem Regisseur Sebastian Hirn den Maßstab, jedoch keineswegs die Wirkung reduziert.
Zu einer elektronischen Klangspur mit metallischen Geräuschsalven und vereinzelten Bruchstücken melodischer Streicherpassagen setzen die großartigen Improvisationsmusiker Sebi Tramontana (Posaune) und Frank Gratkowski (Bassklarinette) Akzente. Auf der Außenseite des Zylinders erinnern Projektionen zunächst an einen Zivilisation-Overkill, bevor ein aus dessen Mitte heraus hell erleuchteter Kreis den Fokus wieder ganz auf den Tänzer lenkt. Der generiert im zweiten Teil durch Bewegungen die Klänge selbst, was prompt zu einem etwas diffus anschwellenden Sturmgetöse führt. Spannender als das computergesteuerte Chaos ist allemal das unmittelbare, fein abgestimmte miteinander Reagieren der einzelnen Künstler, das den Abend zu einem intensiven Erlebnis macht.
Tanznetz.de, 19. April 2006
Ein Traum von Freiheit von Yvonne von Duehren
Schon der Name des Veranstaltungsortes, die so genannte “Black Box“ im Gasteig, ist Sinnbild der Atmosphäre, die diese Aufführung ausmacht: eine klaustrophobische Enge, das Gefangensein in Raum und Zeit und der ausweglose Versuch, der eigenen Orientierungslosigkeit und Vereinsamung zu entkommen. Dazu bewegt sich der spanische Tänzer Cesc Gelabert auf einer von allen Seiten einsehbaren, gegenüber den Zuschauerplätzen tiefer gelegten Bühne. Auf dem Boden liegend windet er sich entlang des Bühnenrandes, mal passt er sich in die Ecken ein, dann stemmt er sich gegen die Begrenzungen, er springt auf, suchend nach einem Ausweg, sich aufbäumend gegen sein Schicksal, dann wieder lässt er sich matt zurückfallen in Akzeptanz seiner aussichtslosen Situation.
Musikalisch wird diese Atmosphäre durch Pogatschars Komposition für Bassklarinette und Posaune unterstützt, deren Klänge den Schmerz des Gefangenen auch akustisch offenbar werden lassen. Dazu Videoeinspielungen und Lichtinstallationen auf einer Leinwand, die wie ein runder Schornstein von der Decke in das Sichtfeld der Bühne ragt, und damit die Begrenztheit des Raumes noch verstärkt. Zunächst ein Gewirr von Farben und Formen werden auf der Leinwand Menschen erkennbar, im Schwimmbad, auf dem Bahnhof – Ansammlungen von bunt gekleideten umherwirbelnden Personen, die im krassen Gegensatz zu dem einsamen schwarz gewandeten Tänzer auf der Bühne stehen. Und dennoch, auch diese Bilder verdeutlichen eine ewige nicht zu durchbrechende Kreisbewegung, die synchronisierten Bewegungen sind Zeichen der Konformität nicht der Gemeinschaft.
Helga Pogatschar hat Heiner Müllers Text ein zweites Mal eindrucksvoll auf eine neue Ebene gebracht – eine Tanz-, Klang- und Videoinstallation, die die Isolation und Orientierungslosigkeit des Menschen mit allen Sinnen erlebbar macht.
„Bleib weg von mir, der Dir nicht helfen kann“ – mit diesem Satz endet das Stück; der zwangsläufige Tod des Protagonisten markiert gleichzeitig einen Neubeginn – denn die Erkenntnis über eine ständige Bewegung im Kreis löst auch das Rätsel des Einstiegs in die Welt des Protagonisten: er war von vornherein dort.
Neue Zeitschrift für Musik, Juli/August 2006
Von der Architektur des Klanges von Tobias Söldner
„Eine unersteigbar hohe Wand, die … aus Beton besteht. Die Wand ist ohne Lücke, kein Ausstieg …, ein Rätsel wie ich hereingekommen bin.“ So beginnt Heiner Müller mit der Ortsbeschreibung in seinem Traumtext. Diesen Text hat der Schriftsteller und Theatermann kurz vor seinem Tod im Jahr 1995 veröffentlicht. Fast sein ganzes Leben als Künstler hatte er in der DDR bekanntlich in einer Art Kompromiss-Situation gearbeitet und gelebt, wo er von Staats wegen abwechselnd mit Ehrungen wie Aufführungsverboten bedacht wurde. Als Müller seinen Traumtext schrieb, war jene ‚unersteigbare’ Mauer längst gefallen, der sogenannte Osten untergegangen. Was den Untergehern von ihren Utopien geblieben war, flüchtete sich in die Welt des Traumes, oder wie im Falle von Heiner Müllers Prosasequenz Traumtext in die eines Alptraumes.
Bereits zum zweiten Mal hat sich die Münchner Komponistin Helga Pogatschar, Jahrgang 1966, dieses Textes angenommen und zu einer Musik-Tanzperformance bearbeitet. Das zeugt von Hartnäckigkeit, Durchhaltevermögen, ja mehr noch einer tiefen Verbundenheit mit den Sätzen dieser Prosa. Eine Verbundenheit, deren Vorgeschichte jetzt gut zehn Jahre zurückreicht. Seitdem nämlich Helga Pogatschar durch eine Besprechung von Klaus Theweleit auf Heiner Müllers Traumtext gestoßen war, hat sie dessen sehr persönliche Energie nicht mehr losgelassen. „Gerade die autobiographische Note dieses letzten veröffentlichten Textes“, so Pogatschar, in dem seine zur Entstehungszeit gerade zweijährige Tochter eine zentrale Rolle spielte, habe sie tief beeindruckt. Trotzdem sollte es noch ein paar Jahre dauern, bis die Komponistin eine musikalische Umsetzung von Müllers Traumtext verwirklichen konnte. Bei der Uraufführung zum Festival Dance 2004 in der Muffathalle München setzte die Künstlerin dem Umfang der Halle entsprechend auf eine aufwendige Inszenierung des Werkes mit großem Chor und Ensemble. Diese Herangehensweise entwickelte Pogatschar allerdings logisch aus einem direkten Bezug zu Müllers Biographie und dem Interesse and dem Phänomen Masse und Macht im sozialen Kontext.
Die Frage nach dem Sinn einer Fortschreibung ihrer musikalischen Bearbeitung der Müllerschen Kurzprosa beantwortete die Komponistin mittels der Uraufführung ihres „Traumtext II“ in der Blackbox des Gasteig München beeindruckend und durchwegs positiv.
Helga Pogatschar, die zwei Studiengänge mit Klavier und Komposition für Film und Fernsehen absolvierte, interessierte von Anfang an ihrer kompositorischen Tätigkeit vor allem die Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung. Schon bei ihrem ersten abendfüllenden Werk „Mars – ein Requiem“ (1995) konnte die Münchnerin mit einer gelungenen Fusion aus klassischem Oratorium und moderner, am Computer generierter Klangkunst überzeugen. Für ihre Werke wurden der Komponistin zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen zuerkannt. Naturgemäß zeitigt eine solche Biografie nicht nur eine gewisse Unbefangenheit beim Umgang mit der Maschine zur Produktion von Klängen und zur Bereicherung von kompositorischen Mitteln, sondern manifestiert sich erst recht in der Weiterentwicklung der Maschinen selbst und ihrer Programme zur Klangproduktion. Ganz im Geiste eines Edgard Varèse sucht die Komponistin nach Maschinen, die neue Klänge produzieren und nicht Klänge reproduzieren.
In Frieder Weiss, der die interaktive Software zur Klanginstallation entwickelt, hat Pogatschar daher einen kongenialen Partner für ihr Projekt „Traumtext II“ gefunden. „EyeCon“ nennt sich das Computer-Programm, das mit Hilfe einer Infrarot Kamera in der Lage ist, komplexe Bewegungsabläufe eines Menschen zu analysieren und mit den gewonnenen Informationen Klänge zu generieren. Durch die immer schneller arbeitenden Maschinen kann diese Information quasi in Echtzeit an einen weiteren Rechner und das verbreitete Soundprogramm Max/MSP weitergeleitet. Ein auf der Granularsynthese beruhender Algorithmus erzeugt schließlich die interaktive Klangwelt aus den Bewegungen eines tanzenden Menschen. Was in der Sprache der Technik vielleicht verwirrend klingen mag, erklärt Helga Pogatschar weitaus anschaulicher in den Worten der Künstlerin, die daran arbeitet, wie der Klang in den Raum gelangt.
Ausgangsbasis sind bereits bearbeitete Audiodateien. „Zuerst definiere ich den architektonischen Raum, in diesem Fall die Black Box, durch diese Klänge,“ sagt Pogatschar. „Grundsätzlich kann ich jedem Punkt im Raum einen Klang, beziehungsweise Stille zuweisen. Die Software EyeCon analysiert dann das mit einer Infrarot-Überwachungskamera aufgenommene Wärmebild je nach Bewegung und Bewegungsrichtung eines Menschen im Raum. Der von mir mit Klängen vordefinierte Raum wird so zu einer virtuellen Klanglandschaft,“ so Pogatschar begeistert, „die der Tänzer erforschen kann.“
Eine tragende Rolle spielte bei einem technisch so komplexen Aufbau naturgemäß die Erfahrung und Körpersprache des Tänzers, der schließlich durch seine Choreografie das architektonische Klangraster des Raumes bestimmt. In dem aus Barcelona stammenden Tänzer Cesc Gelabert hat die Komponistin einen ausgezeichneten Partner für ihr Projekt gefunden. Gelabart, der neben seiner Tanzausbildung sogar Architektur studiert hat, erwies sich bereits in der Arbeit zum großen Traumtext vor zwei Jahren als Idealbesetzung für das Lyrische Ich des todesvisionären Prosastücks, da er sich präzise mit der Sotware und dem Raum beschäftigte, bevor er seine Choreografie bearbeitete.
Bei der Uraufführung von Traumtext II in der Black Box, am 14. April, überzeugte zunächst das schlanke, aber dichte Gesamtkonzept, das Pogatschar mit dem Regisseur Sebastian Hirn und Michael Bischoff, verantwortlich für das Lichtdesign und Raum, erarbeitet hat. An den Seiten der schwarzen, quadratischen Spielfläche entlang bildete das Publikum eine lückenlose, schweigende Mauer. Das Zentrum des Raumes wurde dominiert von einem scheinbar betonschweren, nach unten offenen Zylinder, der sowohl als Projektionsfläche für die hervorragende Videoprojektion diente, deren Bilder von dem Videokünstler Jörg Staeger gesammelt und zusammen gestellt wurden. Zudem fungierte im Lauf des Abends diese ‚Röhre’ dann überwiegend als riesiger Beleuchtungskörper für die Tanzsequenzen Gelaberts. Sehr leise gestaltete Pogatschar die Einleitung des Stückes, worin auch die beiden Bläser Sebi Tramontana (Posaune) sowie Frank Gratkowski (Bassklarinette) sich angemessen zurückhaltend einfügten. Als Zuspielung hatte Helga Pogatschar die Textpassagen Heiner Müllers, von den Schauspielern Horst Sachtleben und Jürgen Holtz einsprechen lassen und aufgenommen. In einer ersten Textwelle war die Beschreibung der Architektur des Raumes aus dem Traumtext extrahiert und vermittelte eine das Stück beherrschende urbane Grundstimmung. Erst dann mit dem schlagenden Beginn der Tanzsequenz Gelaberts spielte Pogatschar die nächste Textwelle ein, in der die Stimmen eine Beschreibung von Kreis, Rundgang und Bewegung vermittelten. Den Höhepunkt bildete die interaktive Raummusik der Tanzperformance, die trotz der Kompliziertheit des technischen Überbaus keinesfalls den Eindruck des Gewollten machte, sondern vielmehr in ihrer Bewegung und Klangkunst überaus kraftvoll und natürlich wirkte. Das Publikum der Münchner Uraufführung zeigte demnach auch seine ehrliche Begeisterung.
Ein großer Vorteil der vermeintlich Ein-Personen Musik und Tanzperformance zeigt schon jetzt im Nachhinein. Nämlich, die relativ realistische Chance, mit dem ‚ Traumtext II auf Tour und zu Festivals eingeladen zu werden. „ Es liegen bereits solide Anfragen und Angebote vor,“ berichtet Helga Pogatschar. So beispielsweise für ein Gastspiel in Spanien auf Vermittlung des Instituto Cervantes. Außerdem sei ja wegen der vielfältigen technischen und künstlerischen Aspekte dieser ‚Interaktiven Installation’ alles möglich, ob der Schwerpunkt eines Festivals nun auf Musik, Elektronik oder Tanz läge. Ja sogar bei Literatur, meint Helga Pogatschar, schließlich ginge es ja zuallererst um einen Text von Heiner Müller.
nmz, Juni 2006
von Klaus Kalchschmid
Heiner Müllers „Traumtext“, einer seiner letzten von 1995, ist der nüchterne und doch hochgradig emotionale Bericht eines geradezu archetypischen Alptraums und darin durchaus Franz Kafkas „Verwandlung“ ähnlich. Dort wacht ein Mann eines Tages auf und muss als Käfer hilflos auf dem Rücken ausharren: Bei Müller fällt ein Vater in ein Wasserbecken und vermag sich und seine Tochter trotz aller Anstrengungen nicht zu befreien; der Ausgang bleibt offen.
Auch in der interaktiven Musik-Tanz-Performance „Traumtext II“ (ein 2004 in der Münchner Muffathalle uraufgeführter „Traumtext“ hatte noch einen direkten Bezug zu Müllers Biographie) der Münchner Komponistin und Hörspielautorin Helga Pogatschar und des spanischen Tänzers Cesc Gelabert spielt der im Text beschriebene „Kessel“ eine Hauptrolle. Vater und Tochter sind durch ihn in ihrem Gefängnis gelandet; nun hängt er in der Black Box des Münchner Gasteig als Zylinder wie ein Damoklesschwert über einem quadratischen Spielfeld, um das die Zuschauer sitzen: als Projektionsfläche für faszinierend bunt schillernde Menschenmassen aus der Vogelperspektive, verfremdet oder real, in Slow Motion oder Zeitraffer (Jörg Staeger). Währenddessen wälzt sich der Tänzer langsam liegend um den Rand der Spielfläche. Über Lautsprecher werden versprengte Celloklänge und Textfragmente – gelesen von Horst Sachtleben und Jürgen Holtz – eingespielt. Live erklingen delirierende, nervöse Duos von Posaune (Sebi Tramontana) und Bassklarinette (Frank Gratkowski).
Nach einer halben Stunde fällt plötzlich Licht von oben auf die quadratische Spielfläche und macht sie kreisrund. Das eigentliche (Tanz-)Spiel beginnt: „Ich gehe … einen schmalen Betonstreifen … am Rande eines riesigen Wasserbeckens entlang.“ Nun wird der Tänzer in seinem schlichten schwarzen Leinen-Anzug (Anja Wüst) zum Zentrum, löst er durch seine Bewegungen in einem Computer-Setup vorgefertigte Klänge aus. Manchmal gerinnen die live dazu gespielten Töne von Klarinette und Posaune zu berückender Spärenmusik und doch bleibt die Bedrohung, die Ohnmacht des Mannes in jeder Drehung des Körpers, die unterschiedlichste musikalische Schatten wirft, spürbar. Denn manchmal schärfen und überlagern sich die Klänge derart, dass sie dem Johlen einer Menge gleichen. Wenn die beiden Instrumentalisten wieder in Aktion treten, dominiert erneut zartes, erschöpftes Duo-Musizieren, und der Vater sieht sich selbst als Portrait und Körper auf die Tanzfläche projiziert. Doch das Geschehen dreht sich immerzu im Kreis. Hilflos zappelnd „schwimmt“ der Tänzer auf dem Boden liegend in der Luft. Auch hier: Black out und offenes Ende.
Über gut eine Stunde hält Cesc Gelabert die Spannung, bewegt, dreht und verschraubt er sich zugleich gehemmt, verstört und elegant virtuos in sich selbst, vermag die Musik Helga Pogatschars die emotionalen Abgründe des Textes zu durchleuchten. Präzise Auskomponiertes mischt sich mit Improvisation als Reflexion der allumfassenden Ohnmacht des Protagonisten, Prägnantes mit Diffusem. Und doch wünscht man sich manchmal die Extreme: dass die Sätze Heiner Müllers weniger zersplittert werden – oder dass sie ganz wegfallen. Denn Rauminstallation und Licht (Michael Bischoff), Regie (Sebastian Hirn), Tanz und Musik sind stark genug, um die Botschaft von Heiner Müllers „Traumtext“ zu tragen, ja zu intensivieren.